Ein Leben mit dem Kusserow-Bandonion
Interview mit Musiker Bernd Machus
Berlin, 24.2.2024
Herr Machus, es freut mich, dass ich Ihnen für bandonioninfo.de einige Fragen zum Kusserow-Bandonion stellen darf. Wer sollte darüber besser Auskunft geben können als Sie, der seit 1948, also 76 Jahren dieses gleichtönige Bandonion spielt. Beginnend als Schüler noch bei Ernst Kusserow selbst, dann als langjähriger Berufsmusiker und später auch als Musiklehrer. Man kann also ohne Übertreibung sagen, dass das Kusserow-Bandonion ihr Leben geprägt hat. Wie haben Sie zu ihm gefunden?
Bernd Machus: Ich war damals neun Jahre. Bis dahin hatte ich zwei Jahre Unterricht am Standardbass-Akkordeon und bin dann zum gleichtönigen Chromatiphon* von Hugo Stark gewechselt. Das hatte mein Akkordeonlehrer meiner Mutter empfohlen, weil mit diesem Einzeltoninstrument musikalisch viel mehr möglich wäre als am Akkordeon. Es gab damals noch keine Einzeltonakkordeons. Meine Mutter hat das sofort überzeugt und ich bekam nun Bandonionunterricht am Chromatiphon. Nach zwei Jahren verstarb mein Lehrer aber unerwartet. Meine Mutter hat daraufhin Ernst Kusserow*, der in Berlin als nachgefragte Kapazität galt, ausfindig gemacht. Ernst Kusserow nahm aber nur begabte Schüler. Meine Mutter ist mit mir zum Vorspielen zu ihm gegangen. Da kam er gerade mit Kohleeimern aus dem Keller, während sich sein Meisterschüler Werner Böhm oben in seiner Wohnung warmspielte. Böhm war mit 19 Jahren schon ein begehrter Bandonionspieler für Aufnahmen beim Radiosender RIAS (Radio Im Amerikanischen Sektor) und anderswo. Nach meinem Vorspiel hielt Böhm Fürsprache, man bräuchte doch Nachwuchs. Ernst Kusserow willigte ein, mich zu unterrichten, aber eben nur am Kusserow-Bandonion, weil er am Chromatiphon Mängel sah. Ich hab' dann an einem für 1.000 Ost- bzw. 500 Westmark neugekauften Arnold-Instrument [E.L.A] noch mal umgelernt. Also, wenn jemand das Kusserow für mein Leben gefunden hat, dann war es meine Mutter.
Wer war Ernst Kusserow, dessen Namen dieses Bandionion trägt?
B.M.: Ernst Kusserow war ein sehr bekannter Berliner Musiklehrer und ein umtriebiger Musiker, der sich auch im Bandonionbau auskannte. 1934 wurde er mit 37 Jahren langjähriger Leiter der Bandonionklasse am Sternschen Konservatorium in Berlin. Er hat sich zeitlebens Gedanken um technische und qualitative Verbesserungen des Intrumentes gemacht. Noch kurz vor seinem Tod 1979 hat er in seiner Küche mit einfachen Werkzeugen an einem Verbesserungsentwurf gebaut. Er hatte immer hohe Ansprüche. Beispielsweise besaß er ein 90-Grammgewicht, mit dem er eine Tastatur auf gleichmäßigen Tastendruck überprüfen konnte. Sank eine Taste unter dem Gewicht nicht ein, war der Tastendruck zu hoch. Es war oft ein Problem, dass sich manche Tasten schwerer als andere drücken ließen, was beim Spielen sehr hinderlich ist. Die Gewichte hat er sogar zu Arnolds [Bandonionfabrik] nach Carsfeld mitgenommen.
Wie lange hatten Sie bei Ernst Kusserow Unterricht?
B.M: Bis zur staatlichen Abschlussprüfung an der Hochschule für Musik. Da war ich 21. Er hat mich die gesamte Zeit von A bis Z betreut, mit intensiven Instrumentalunterricht, Harmonielehre usw. bis ich als Kind manchmal heulend nach Hause bin und meine Mutter sich bei ihm beschwert hat. Mir und allen anderen der Bandonionklasse riet er auch dringend, noch den Pädagogikabschluss zu machen, um auch als Musiklehrer unterrichten zu können. Er legte auch großen Wert auf meine Allgemeinbildung, und hat irgendwie mein Leben in die Hand genommen. Meine Studienzeit am Sternschen Konservatorium und später an der Hochschule für Musik war sehr gewinnbringend, auch weil man über Studienfreunde manchen Auftritt bekam. In der Bandonionklasse waren z.B. noch Alfred Friedrich und Karl Oriwohl.
Sind Sie noch mit dem einstmals großen Vereinsleben des Bandonions in Berührung gekommen?
B.M.: Mit dem Bandonion-Vereinsleben nicht mehr, aber ich war im Akkordeonorchester von Kurt Gerlach, ein damals sehr bekannter Mann in Berlin. Ich war dort als einziger Bandonionspieler immer für die Solopassagen zusändig. Aber schon mit elf Jahren bin ich als „jüngster Bandonion-Solist“ Berlins aufgetreten, wo im Programm auch der.bekannte Akkordeonist Joe Alex spielte. Meine Mutter und Ernst Kusserow saßen immer in der ersten Reihe.
Sie haben also schon als Kind Bühnenluft geschnuppert?
B.M: Ja, und es ging fließend weiter. Später als Jüngling und Notenfresser hab' ich in Ostberlin in einer kleinen Unterhaltungsrevue mit dem kleinen Orchester Schneidewind gespielt, oder zum Nachmittagstee im Tierpark usw. Es gab damals ja noch jede Menge Auftrittsmöglichkeiten für Tanzorchester. Ich bin auch durch die DDR gereist. Über den sehr guten Bandonionisten Harry Schrader kam ich mit 19 Jahren als Vertretung zum Großen Tanzstreichorchester Adalbert Lutter. Nachdem ich mit einer anspruchsvollen Passage glänzte, an der Harry Schrader am wechseltönigen Bandonion schwächelte, galt ich bei Lutter als gesetzt. Es ist ja eben so, wenn die Töne auf dem Wechseltönigen schlecht liegen, bricht man sich die Finger. Darauf wird aber bei einem Orchester keine Rücksicht genommen, sondern die Tonart gewählt, die am besten klingt. Das war ja immer der große Vorteil des gleichtönigen Kusserow, dass ich damit alles problemlos spielen konnte, was mir vorgelegt wurde. Mit 21 hab' ich z.B. beim niederländischen Sender Hilversum die Ballszenen von Helmesberger eingespielt und war mit einer Band im Land unterwegs. Ich hab' auch lange in Ami-Klubs Jazz gespielt.
Im Großen Tanzstreichorchester von Adalbert Lutter spielten viele Westberliner Musiker wie ich, und es war immerhin das Hausorchester des ostdeutschen Berliner Rundfunks. Viele Westberliner Musiker lebten von den Aufträgen der Ostdeutschen Sender in der Nalepastraße und waren dort beschäftigt. Die DDR-Sender Berliner Rundfunk und Deutschlandsender mussten ihren Hörern ja auch was bieten. Der Mauerbau 1961 war deshalb für einige Orchester das Ende und viele West-Berliner Musiker gingen danach Stempeln, weil der Berliner Musikmarkt für sie 1961 über Nacht auf Westberlin geschrumpft war. Ich persönlich hatte aber genügend zu tun. Jede Menge Schallplattenaufnahmen z.B. bei TELDEC, Auftritte mit Heinrich Rietmüller*, dem Leiter des RIAS-Orchesters, als Hauskappelle des damals bedeutendsten Fernsehunterhalters Hans Rosenthal. Bei Rietmüller war ich auch für Hörspielaufnahmen des RIAS tätig. Oder beim SFB (Sender Freies Berlin) wurde ich von Paul Kuhn*, dem Leiter der SFB Big Band für Tangostücke und andere Auftritte als Gastmusiker engagiert.
Wann haben Sie einen allgemeinen Rückgang des Bandonions in der Öffentlichkeit festgestellt?
B.M.: Anfang der 60er war das noch nicht der Fall. Es wurde zwar etwas weniger, aber es gab noch genügend Spieler, die überall gespielt haben. Z.B. Alfred Friedrich bei uns in Reinickendorf war ein ganz bekannter Mann. Da ist man Sonnabend, Sonntag mal hingegangen und hat zugehört. Es war ja noch überall Musik. Später ging die öffentliche Musik aber dann Stück für Stück zurück.
Wie war Ihre berufliche Lage als Musiker in dieser Zeit?
B.M: Ich hatte immer gut zu tun bis zur Wende. Ich hab' zum Teil Mittwoch, Freitag, Sonnabend und Sonntag auf Bällen gespielt. Dann Studioaufnahmen z.B. mit Udo Jürgens, Vicky Leandros und anderen. Berlin war ja eine Hochburg für Plattenproduktionen. Aber nach der Wiedervereinigung fielen die Zuschüsse der Berlin-Förderung weg. Die sind ja alle wegen der Zuschüsse der Berlin-Förderung nach West-Berlin gekommen. Wer in West-Berlin produzierte, bekam damals eine finanzielle Förderung, um den Westteil der Stadt am Leben zu halten. Danach gab es nur noch wenige Aufnahmen. Und in der Öffentlichkeit war die Konservenmusik auf dem Vormarsch. Die Tanzorchester wurden nach und nach aufgelöst. Ich hatte aber schon seit 1975 auch als Lehrer für Piano- und Einzeltonakkordeon an einer Musikschule gearbeitet, deren Leiter ich dann später wurde. Danach habe ich nur noch Bandonionkurse gegeben, die immer mit knapp zehn Schülern belegt waren. Man musste auch sehen, woher man Kusserow-Instrumente bekam. Das war immer ein Problem.
Haben Sie unter den Bandonionspielern ein musikalisches Vorbild?
B.M.: Mosalini! Juan José Mosalini ist mein absolutes Vorbild. Ein exellenter Musiker, der unwahrscheinlich sauber spielt. Er hat auch Bearbeitungen geschrieben, wie Cembalokonzerte für Bandonion und Flöte. Und natürlich auch Astor Piazzolla.
Welches Ihrer Kusserow-Bandonions hat Sie am meisten begeistert?
B.M.: Das von Klaus Gutjahr gebaute – ein Spitzeninstrument! Das Gutjahr ist mit Abstand das Beste vom Klang. Auch wie die Klaviatur läuft. Klaus Gutjahr hat sich das Wissen des Bandonionbaus alles als Autodidakt angeeignet und sich da richtig reingekniet – mit tollem klanglichen Erfolg. Das muss man hoch anerkennen. Er hatte 1983/85 auch eine Serie von fünf Kusserows gebaut. Danach wollte er aber wegen der aufwendigen Blechbiegerei von Kusserows nichts mehr wissen. Er hat leider sogar die Möglichkeit Kusserows über die große Firma Hohner vertreiben zu können, abgelehnt.
Um 2005 hat Peter Spende* in Berlin wieder einige wenige Kusserows gebaut. Gab es an diesen Neuerungen?
B.M.: Auf jeden Fall! Peter Spende hat als Quereinsteiger bei Klaus Gutjahr angefangen und mit ihm 1995 eine gemeinsame Firma gegründet. Beide sind aber nach einiger Zeit eigene Wege gegangen und haben getrennt weiter Wechselton-Instrumente gebaut. Auf meine Anregung hin war Peter Spende offen dafür, auch gleichtönige Kusserows zu bauen. Aber nur, wenn er eine Mechanik frei von großer Blechbiegerei entwerfen kann. Das ist ihm mit dem Fachwissen seines früheren Berufes als Konstrukteur auch sehr gut gelungen. Dabei hat er Hugo Starkes Reformklaviatur* quasi noch mal neu entwickelt. Mit noch einigen weiteren Verbesserungen, die ich dank meines langen Gebrauchs des Intrumentes beisteuern konnte, ist das von Peter Spende gebaute Kusserow ein erheblich verbessertes Modell. Bei Neuauflagen sollte es unbedingt als Grundlage genommen werden. Leider sind keinerlei Bauunterlagen mehr verfügbar, sodass ein neues Aufmaß erstellt werden müsste.
Wie verlief Ihr 76-jähriger Praxistest mit dem Kusserow? Hat es Sie irgendwann einmal im Stich gelassen, in dem Sinne, dass etwas aufgrund des Tastatursystems nur sehr schwierig oder gar nicht spielbar war?
B.M.: Es ist optimal. Ich hab' ja nun über viele Jahre im Aufnahmebereich bei Schallplatten-, Filmaufnahmen usw. gespielt. Und mitunter wurden mir schwere Sachen vorgesetzt. Da konnte man vielleicht kurz üben, aber es gab nie viel Zeit dafür. Bei den Orchesterterminen hat der Produzent die Noten ausgeteilt, man konnte die kurz durchsehen und anspielen, aber dann kam schon der Dirigent: "So wir spielen das jetzt mal durch." Dann wurde drei-, viermal durchgespielt und im Anschluss die Aufnahme gemacht. Da hat man keine Zeit, sich das Stück erst nach der günstigsten Balgrichtung zurechtzulegen, weil man ein Wechselton-Instrument spielt. Auch muss man auf Abruf in gleicher Qualität in jeder Tonart spielen können. Mit Udo Jürgens hatte ich einen Titel, der war in C-Dur und wechselte dann ungewöhnlich nach Cis-Dur mit sieben Kreuzen, eine sehr selten gespielte Tonart. Aber am Kusserow rutsch ich mit der rechten Hand einen Halbton, eine Taste nach unten und kann das sofort spielen. Oder Fred Oldörp von den 3 Travellers rief mich an: 'Du musst mich retten. Heinz Alisch hat für sein Orchester einen Titel in Des-Dur arrangiert, den krieg ich nicht hin.' Am Wechseltönigen ist das eine schwierig zu greifende Tonart, mit dem Kusserow aber kein Problem.
Was ist denn das Problem bei Wechselton-Instrumenten in solchen Situationen?
B.M.: Am wechseltönigen Bandonion sind manche, insbesondere b-Tonarten wegen der Tonbelegung schwierig zu greifen, weil das wechseltönige Tastatursystem in erster Linie für Dur-Tonarten gebaut und erweitert wurde. Schwierige Tonarten werden deswegen gemieden und man spielt vorzugsweise in günstiger zu greifenden. Ein Arrangeur nimmt darauf aber keine Rücksicht. Am Kusserow gibt es so einen Unterschied nicht. Da lassen sich alle Tonarten gleich spielen. Am Wechseltönigen muss man auch auf den Zeitpunkt des Wechsels der Blagrichtung achten, um möglichst in günstige Grifflagen zu wechseln. Das ist am gleichtönigen Kusserow völlig irrelevant, weil die Griffe für jede Balgrichtung die gleichen sind. Das ist ja der Sinn und Vorteil der Gleichtönigkeit. Meine nur postiven Erfahrungen hat mir auch Werner Böhm, der schon erwähnte Meisterschüler von Ernst Kusserow bestätigt. Böhm war fest beim RIAS als Studiomusiker, er hat gar nichts anderes gemacht. Dort bekam er ständig die verschiedensten Arrangements für das RIAS Ensemble Adolf Wrege und das RIAS-Tanzorchester vorgelegt und das war alles problemlos spielbar. Er hatte nie Probleme mit dem Kusserow-Bandonion, die ihn spielerisch eingeschränkt hätten. Und bei mir war es genauso.
Wie steht es heute um das Kusserow-Bandonion, sieben Jahrzehnte nach Ihren ersten Tönen auf diesem Instrument?
B.M.: Nun, das Bandonion fristet allgemein leider ein Schattendasein, ganz unabhängig vom Bautyp. In meinen Kursen sind über die Jahre immer knapp zehn Teilnehmer, was ich schon als Erfolg werte. Das Hauptproblem sind aber die fehlenden Kusserow-Instrumente. Wenn sich jemand anmeldet, muss oft erst ein Instrument organisiert werden. Wenn sich also angenommen 20 Leute anmelden würden, für die gäbe es gar keine Kusserows, weder an der Schule, noch im Instrumentenhandel. Deshalb ist die Arbeit von Peter Spende mit seiner verbesserten Kleinserie von 2005 so wertvoll, weil es mit diesen Instrumenten jetzt zufriedenstellende Prototypen gibt, anhand derer jemand weitere bauen könnte. Überlegenswert wäre auch eine im Tonumfang kleinere Kusserow-Concertina für Kinder, damit nicht nur Erwachsene mit dem Kusserow-System spielen können. Zum Erlernen gibt es übrigens eine von mir verfasste Schule für Kusserow-Bandonion, die in Deutsch, Englisch und Spanisch auf meiner Seite www.berndmachus.de erhältlich ist.
Herzlichen Dank für die interessanten Rückblicke in das Musikgeschehen früherer Zeiten und die Auskünfte zum Instrument! Ich wünsche weiterhin 'Gut Ton'!
Spielanleitung für Kusserow-Bandonion mit Bernd Machus (Video)
* Ernst Kusserow (1897-1979)
* Heinrich Riethmüller, Leiter RIAS-Orchester u.a.
* Paul Kuhn, Leiter der SFB Big Band u.a.
* Kusserow-Bandonion von Peter Spende